Neglect - Merkmale, Ursachen und Behandlung

Die Bezeichnung Neglect entstammt dem lateinischen Begriff "neglegere" und bedeutet auf Deutsch soviel wie "vernachlässigen" oder "nicht wissen". Gemeint ist damit eine neurologische Aufmerksamkeitsstörung. Sie entsteht durch Schädigungen des Gehirns, zum Beispiel nach einem Schlaganfall. Bei einem Negelct nehmen Betroffene eine Körper- oder Raumhälfte nicht mehr wahr, ohne diese Störung überhaupt zu bemerken. Lesen Sie hier alles Wichtige zu den Merkmalen, Ursachen und der Behandlung eines Neglects.

Von Jens Hirseland
Klassifikation nach ICD-10: R29.5
ICD-10 ist ein weltweit verwendetes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Der sogenannte ICD-Code ist zum Beispiel auf einem ärztlichen Attest zu finden.

Beim Neglect, der neben der Anosognosie zu den Unterformen der Agnosie zählt, nimmt der Patient die gegenüberliegende Körper- oder Umgebungsseite nur noch schlecht oder sogar überhaupt nicht mehr wahr. Das heißt, dass die Seite, die der Hirnschädigung gegenüberliegt, vernachlässigt wird. Dabei fühlt sich der Betroffene aber keineswegs erkrankt, sondern vollkommen normal. Oft mangelt es ihm an Bewusstsein für seinen Körper.

Bei den meisten Neglectpatienten liegt eine Läsion der rechten Körperhälfte vor. In solchen Fällen besteht eine Wahrnehmungseinschränkung der linken Körperseite.

Von der Missachtung des Körpers können sämtliche Sinne betroffen sein. Auch auf die Motorik achtet der Patient nicht mehr, wodurch er seine Gliedmaßen kaum noch bewegt. Eine Lähmung besteht jedoch nicht. Weil der Betroffene seine Unzulänglichkeiten gar nicht bemerkt, empfindet er sein Verhalten als vollkommen normal.

Formen des Neglects

Je nachdem, welche Sinne oder Körperregionen vom Neglect betroffen sind, differenzieren die Ärzte zwischen verschiedenen Formen. Meist zeigen sie sich jedoch nicht einzeln, sondern treten teilweise oder komplett zusammen auf.

Visueller Neglect

Bei einem visuellen Neglect ist der Patient nicht mehr in der Lage, seine geschädigte Körperhälfte wahrzunehmen. Das Gesichtsfeld ist daher ausschließlich auf die ungeschädigte Körperseite beschränkt.

Akustischer Neglect

Der akustische oder auditorische Neglect wirkt sich auf das Hörvermögen des Patienten aus. So kann er auf der geschädigten Seite nichts mehr hören. Geräusche, die aus dieser Richtung stammen, lassen sich nicht zuordnen.

Olfaktorischer Neglect

Auch das Riechvermögen leidet unter einem Neglect. Der Patient ist nicht mehr imstande, auf der beeinträchtigten Seite des Körpers Gerüche wahrzunehmen. Allerdings lässt sich dieser Nachteil durch die gesunde Körperseite wieder ausgleichen.

Motorischer Neglect

Um einen motorischen Neglect handelt es sich, wenn sich die Muskeln, die sich willentlich steuern lassen, nur noch wenig oder sogar überhaupt nicht mehr bewegen lassen. Eine Ausnahme besteht jedoch zumeist bei Bewegungen des Mundes wie Sprechen oder Essen sowie unbewussten Körpervorgängen wie Blinzeln mit den Augen.

Somatosensibler Neglect

Bei einem somatosensiblen Neglect nehmen die Patienten Berührungen oder Schmerzen auf der geschädigten Körperseite nicht mehr wahr. So wird der Standort der Schmerzen oder Berührungen nicht an der Stelle vermutet, an der er auftritt.

Ursachen eines Neglects

Häufigste Verursacher eines Neglects sind Schlaganfälle. Sie haben Einblutungen in spezielle Gehirnabschnitte oder Durchblutungsstörungen in diesen Arealen zur Folge. Die Abschnitte zählen in der Regel zum Groß- oder Zwischenhirn.

In seltenen Fällen können auch andere Ursachen wie Morbus Alzheimer oder ein Gehirntumor für den Neglect verantwortlich sein.

Zu einem Neglect kommt es in den meisten Fällen nach Schädigungen der rechten Hälfte des Gehirns. Neurologen vermuten, dass die rechte Hirnhälfte für das Verarbeiten von Wahrnehmungssignalen von größerer Bedeutung ist als die linke Hälfe. Bei einem Ausfall der linken Gehirnhälfte ist die rechte Seite oft in der Lage, deren Ausfallerscheinungen zumindest teilweise auszugleichen. Fällt jedoch die rechte Hirnhälfte aus, ist ein solcher Ausgleich nicht mehr möglich.

Anzeichen und Merkmale eines Neglects

Ein typisches Merkmal des Neglect ist das Übersehen von Objekten oder Gegenständen, die sich auf der gegenüberliegenden Seite der geschädigten Körperhälfte befinden. Zum Beispiel stößt der Betroffene immer wieder gegen Stühle oder Tische, die auf der vernachlässigten Seite liegen. Außerdem rasiert er sich nur an einer Körperseite und isst stets lediglich eine Tellerhälfte leer.

Letztlich hängen die Auswirkungen des Neglects von dessen Schweregrad ab. Bei einem ausgeprägten Neglect treten sogar Probleme beim Lesen auf, weil der Patient den Anfang der Zeile nicht findet.

Auch auf die Körperpflege wirkt sich die neuropsychologische Störung negativ aus, weil der Patient die betroffene Körperseite komplett ignoriert und sie weder wäscht noch pflegt.

Folgen für den Alltag

Durch den Neglect tun sich die Betroffenen schwer, sich im Alltag zurechtzufinden, weil sie eine komplette Seite ihrer Welt schlichtweg übersehen. So bleiben Reaktionen oft völlig aus, wenn sie von der betroffenen Seite berührt oder angesprochen werden. Sogar Schmerzen nehmen sie kaum wahr. Wird der Patient gebeten, sich auf die betreffende Seite zu konzentrieren, ist er dazu durchaus in der Lage. Allerdings tut er dies nie von selbst. Obwohl der Erkrankte normal fühlen, sehen und hören kann, schafft er es nicht, Reize wahrzunehmen, die auf der geschädigten Körperseite auftreten.

Häufig ist der Neglect mit einer Anosognosie verbunden, sodass die betroffenen Personen ihre Problematik gar nicht registrieren. Dabei sind sie der Auffassung, dass sie über ein komplettes, uneingeschränktes Gesichtsfeld verfügen.

In schweren Fällen besteht eine erhöhte Pflegebedürftigkeit. So sind die Patienten weder imstande, allein die Toilette aufzusuchen, noch sich selbst anzukleiden.

Diagnose eines Neglects

Geht der Neglect mit anderen Symptomen einher, die auf einen Schlaganfall hinweisen, findet in der Regel rasch eine ärztliche Behandlung statt. Zeigt sich das Symptom aber isoliert, dauert es mitunter einige Zeit, bis es überhaupt bemerkt wird. So registrieren die Betroffenen gar nicht, dass sie unter einer Störung leiden. Selbst Angehörigen und Freunden fällt ein alleiniger Neglect nicht immer gleich auf. Weist das Verhalten des Patienten auf einen Neglect hin, muss rasch ein Neurologe aufgesucht werden. Auch eine Untersuchung im Krankenhaus ist möglich.

Erster Schritt der Neglect-Untersuchung ist, die neuropsychologische Störung auch klar zu diagnostizieren. Zu diesem Zweck stehen mehrere Testverfahren zur Verfügung. Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägung des Neglects empfiehlt sich die Durchführung mehrerer Tests, um die Diagnose auch eindeutig abzusichern.

Die Linienhalbierung

Im Rahmen der Linienhalbierung muss die Testperson horizontale Linien exakt in der Mitte teilen. Liegt ein Neglect vor, verschiebt sich die Halbierung in Richtung der gesunden Seite.

Freies Zeichnen oder Kopieren

Bei diesem Test zeichnet der Patient ein Bild von einem Tisch oder Haus nach. Ebenso kann er aus dem Gedächtnis heraus einen beliebigen Gegenstand wie zum Beispiel einen Teller zeichnen. Im Falle eines Neglects werden bestimmte Teile ausgelassen und der Teller nur halb gezeichnet.

Durchstreich- und Suchaufgaben

Für dieses Verfahren bekommt die Testperson ein Blatt Papier, auf dem verschiedene Symbole zu sehen sind. Dabei handelt es sich um Quadrate oder Buchstaben, die sich zufällig verteilen. Der Patient hat die Aufgabe, bestimmte Symbole zu finden und anschließend durchzustreichen. Im Falle eines Neglects werden die Symbole auf einer Seite meist ausgelassen.

Leseaufgaben

Bei der Leseaufgabe liest der Patient einen Text vor. Werden dabei Wörter am Beginn der Zeile ausgelassen, gilt dies als Hinweis auf einen Neglect.

Bei einem stark ausgeprägten Neglect bedarf es normalerweise keiner aufwändigen Testverfahren. Erfahrene Neurologen erkennen die Störung dann häufig schon anhand des Verhaltens des Patienten.

Differentialdiagnose

Mitunter kann ein Neglect fälschlicherweise bei Einschränkungen des Gesichtsfeldes diagnostiziert werden. Gesichtsfeldeinschränkungen betreffen jedoch ausschließlich das Sehvermögen. Der Patient ist sich seiner Einschränkungen in der Regel auch bewusst.

Behandlung eines Neglects

Nicht immer ist bei einem Neglect eine spezielle medizinische Behandlung nötig. So kann sich das Symptom im Laufe der Zeit spontan bessern. Nach 15 Monaten ist die neurologische Störung bei rund 65 Prozent aller Betroffenen nicht mehr feststellbar. Die restlichen 35 Prozent leiden jedoch weiterhin unter den Einschränkungen. Um diese zu bessern, ist eine frühzeitige neurologische Behandlung erforderlich.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur Therapie eines Neglects. Dazu gehört in erster Linie ein spezielles Training der vernachlässigten Körperseite. Das heißt, dass der Patient auch die andere Seite pflegt oder berücksichtigt. Dabei werden Hinweisreize gegeben, um den Patienten zumindest kurzfristig auf die andere Seite aufmerksam zu machen. So kann beispielsweise eine farbige Linie auf dem Tisch einen Hinweis geben. Auch Augen- und Kopfübungen helfen dabei, Bewegungen zur vernachlässigten Körperseite auszuführen. Dies geschieht unter anderem mithilfe von Bildprojektionen oder eines Computers.

Selbstinstruktionstechnik

Im Rahmen einer Selbstinstruktion wird der Befehl, die vernachlässigte Seite zu berücksichtigen, vom Patienten selbst erteilt. Zum Beispiel gibt er die Anordnung, erst den linken Zeilenrand zu suchen, wenn es etwas geschrieben werden soll.

Auf der vernachlässigten Körperseite lässt sich ein kleines Signalgerät anlegen, von dem immer wieder ein Ton ausgesendet wird. Diesen Ton muss der Patient mit jener Hand abgeben, die sonst vernachlässigt wird.

Vibrationstherapie

Durch den Einsatz eines speziellen Vibrators lassen sich die Nackenmuskeln der vernachlässigten Körperseite anregen. Mitunter ist es dadurch möglich, die Symptome des Neglects zu vermindern.

Einsatz von Prismengläsern

Eine andere Behandlungsoption stellt das Anlegen von Prismengläsern dar. Diese speziellen Brillengläser werden bei bestimmten Übungen getragen. Die Methode erzielt gute Resultate, befindet sich allerdings noch im Erprobungsstadium.

Unterstützung durch die Angehörigen

Auch Verwandte oder Freunde können eine bedeutende Rolle bei der Behandlung des Neglects spielen. So ist es wichtig, dem Patienten dabei zu helfen, dessen vernachlässigte Körperseite zu fördern. Zum Beispiel können Gläser und Geschirr auf der vernachlässigten Seite platziert oder Gegenstände auf der Neglect-Seite gereicht werden.

Ansonsten ist viel Geduld und Aufmerksamkeit gefragt. Daher sollten zwischen den therapeutischen Übungen regelmäßig Pausen eingelegt werden. Auch ist es sinnvoll, langsam mit dem Patienten zu reden.

Prognose bei einem Neglect

In den meisten Fällen bildet sich der Neglect nach einiger Zeit von selbst wieder zurück, sodass die Prognose positiv ausfällt. Bei rund einem Drittel der Patienten bleibt die neurologische Störung jedoch bestehen, sodass die Betroffenen mit dauerhaften Einschnitten in ihr Alltagsleben rechnen müssen. Im schlimmsten Fall ist eine lebenslange Pflege und Betreuung durch andere Menschen notwendig.

Grundsätzlich erholen sich Patienten, bei denen ein rechtsseitiger Neglect besteht, schneller als Erkrankte, die unter einem linksseitigen Neglect leiden.

Prävention eines Neglects

Einem Neglect lässt sich nicht vorbeugen. So treten dessen Ursachen wie ein Schlaganfall, neurologische Störungen oder Gehirntumore meist unerwartet auf. Als einzige sinnvolle Präventionsmaßnahme gilt eine gesunde Lebensweise.

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  • Reinhard Strametz Grundwissen Medizin: für Nichtmediziner in Studium und Praxis, UTB GmbH, 2017, ISBN 3825248860
  • Stefan Gesenhues, Anne Gesenhues, Birgitta Weltermann Praxisleitfaden Allgemeinmedizin: Mit Zugang zur Medizinwelt (Klinikleitfaden), Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, 2017, ISBN 3437224476
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  • Susanne Andreae, Peter Avelini, Melanie Berg, Ingo Blank, Annelie Burk Lexikon der Krankheiten und Untersuchungen, Thieme Verlagsgruppe, 2008, ISBN 9783131429629
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